
Kompositionsauftrag an Georges Aperghis
Kultur Ruhr, Bochum (DE)
Georg Aperghis gelingt es in seinen Werken, Tiefgang mit Leichtigkeit, Universelles mit Spezifischem, Aktuelles mit Archaischem, Abstraktes mit Kreatürlichem, Ernst mit Spiel, Forschung mit Liebe zu verbinden. Mit diesem einzigartigen künstlerischen Zugriff und persönlicher Hinwendung komponiert er aus einer ganz eigenen und besonderen Perspektive auf das komplexe Phänomen der Geschichte der Region des Ruhrgebiets ein neues Musiktheater. Der Kompositionsauftrag an Georges Aperghis für die Ruhrtriennale Bochum wird von der Ernst von Siemens Musikstiftung ermöglicht.
Georges Aperghis entschied sich für eine kleine, leichte, bewegliche, wandelbare, nahezu kammertheatralische Form in der Gebläsehalle, die eine hohe Konzentration auf das weitgehend intime Bühnengeschehen fördert, geradezu einen Sog dahin entwickelt: Eine Sängerin und vier Musiker*innen mit ihren Instrumenten, teilweise neu gebaut oder umgebaut. Eine aus der Dunkelheit auftauchende Animationsfilmebene in schwarz und weiß. Leichte, mobile Bühnenkonstruktionen. Ansonsten Licht und Dunkel. Während der Entwicklung der Komposition wandte sich Aperghis der Region und ihren Spezifika zu und die prägende Montanindustrie schob sich ihm in den Blick. Doch bei der Beschäftigung mit der Bergbauthematik galt Aperghis’ Interesse nicht der grotesken Größe, Monstrosität und Weitläufigkeit der Anlagen, die für die Kohleförderung und -verarbeitung erbaut wurden, sondern die in ihrem Kern unerhörte Eigenartigkeit des Vorgangs, der für diese Arbeit und ihre Erträge unternommen wurde: Menschen öffnen die Erdoberfläche und graben ein Loch hinein, immer und immer tiefer durch Jahrtausende alte Erd- und Gesteinsschichten, viele hundert Meter tief, und steigen nun selbst hinab in einem senkrechten Verlauf diesem Ge-Schichte entlang, das sie anfassen, abschaben, abtragen. Je tiefer sie hinabsteigen, desto weiter begeben sie sich in die Vergangenheit, weit zurück in eine prähistorische Vorvergangenheit, von der die Materie in ihren unterschiedlichen Zuständen der Verwandlung erzählt. Eine Materie, die, je weiter man hinabsteigt, immer weniger mit Industrien, Regionen, Territorien, Ländern, Bevölkerungen, Sprachen, Kulturen zu tun hat, die sich auf ihr aufgebaut haben. Je tiefer man steigt, desto weiter driftet man ins Universum.
Georges Aperghis nimmt uns in seinem neuen Musiktheater mit auf diesen Gedankengang, und sogleich wird er plastisch, hörbar und lebendig: die Absurdität dieses Abstiegs hat man so schnell akzeptiert, wie man sie erkannt hat, und sie übt auch gleich eine unwiderstehliche Kraft aus. Die hohe Künstlichkeit des Bildes, das entsteht, wenn man die Welten auf der Erde und unter der Erde nebeneinanderstellt, erinnert in ihrer Regelstrenge an abstrakte Kunst: unten schwarz oben weiß. Unten Männer, oben Frauen, nach unten die Vertikale, oben die Horizontale. Die strikte Dichotomie bringt das gewohnte Orientierungssystem in Aufruhr: Hinabsteigen heißt hinaufsteigen, in die Vergangenheit gehen, heißt in die Zukunft schreiten.
In dieser neuen Arbeit wendet sich Georges Aperghis, der sich viel mit der Konfrontation von Mensch und Maschine beschäftigt hat, elementaren Themen zu, die den Menschen im überzeitlichen Kontext der Erdgeschichte betrachten. Dabei soll Materialität in seiner Musik eine wesentliche Rolle spielen – die Beschaffenheit verschiedener Erd- und Gesteinsschichten in verschiedensten Aggregatzuständen, ihr Klang in der Interaktion mit dem Menschen. Dafür entwickelt Aperghis gemeinsam mit den Musiker*innen neue instrumentale Spieltechniken und sogar neue Instrumente. Insgesamt ist die Musik stark vom Zusammenspiel extremer klanglicher Kontraste geprägt, die die polare Setzung seiner Idee widerspiegelt. Die einzige menschliche Stimme, die in dieser Komposition zum Einsatz kommt, nimmt eine wandelbare Position ein und ist nicht mit einer definierten Figur, einer Person, einem Individuum identifizierbar. In ihr findet sich Mensch wie Vogel wie Kollektiv wie Materie wieder.
Weitere Informationen:
ruhrtriennale.de
Termine
12., 13., 18., 19. und 20. August 2023
Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord